Gustav-Heinemann-Schule

Selbstständige Schule

Oberstufengymnasium des Kreises Groß-Gerau

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Crispr/Cas9 – ein ethisches Dilemma? Ein experimenteller Versuch im biologisch-ethischen Diskurs

Wenn man am 13. oder 14. Januar des Jahres 2020 am Vormittag jeweils zufällig in den Raum 121, einer der Biologieräume der Gustav-Heinemann-Schule, gestolpert wäre, so hätte man sich vermutlich sehr gewundert:

War man in einem Schulraum oder doch in einem S1-Sicherheitslabor? Die SchülerInnen, die entweder eigentümlich komplizierte Pipetten oder aber winzige Reagenzgläser in der Hand hielten, steckten allesamt in Laborkitteln und schienen Dolly 2.0 erschaffen zu wollen, wenn es nach den ratternden Gerätschaften und dem emsigen Treiben ging.

Tatsächlich beschäftigte sich die SchülerInnengruppe, der evangelische Religionskurs in der Q3 von Maren Unruh, Deutsch- und Religionslehrerin an besagter Schule, mit Gentechnik, allerdings war nicht die Existenz eines  flauschigen klonierten Schafes gewünschtes Ergebnis der Tätigkeiten im Raum 121.

Stattdessen sollte anhand der Arbeit mit den beiden unterschiedlichen Weinrebensorten, (…) und (…), die in Kürze näher beschrieben werden wird, ein praktisches Verständnis für die Basics moderner Gentechnik erreicht werden.

Beim Beobachten des Treibens hätte man vielleicht stutzig werden können. Religionskurs? Was suchten die SchülerInnen dann in einem Biologieraum? Was zunächst etwas befremdlich wirken kann, ergibt auf den zweiten Blick durchaus Sinn, vor allem dann, wenn dieser zweite Blick auf dem Kerncurriculum der gymnasialen Oberstufe des Landes Hessen landet:

„Handeln aus christlicher Perspektive. Müssen wir eigentlich alles tun, was medizinisch und technisch möglich ist?- Anwendung der Schritte der ethischen Urteilsbildung auf eine medizinische oder bioethische Fragestellung“

Um dieses Thema realitätsnah vermitteln zu können, entwarfen Maren Unruh und Sebastian Wilhelm, ebenfalls im Lehrerkollegiat der Schule und Informatik-, Biologie-, und Mathematiklehrer, ein Projekt, das erstmals im Jahr 2020 von Montag, den 13. Januar, bis Mittwoch, den 15. Januar, durchgeführt wurde. Die Premiere stand unter der Überschrift „CRISPR/Cas 9- ein ethisches Dilemma? Ein experimenteller Versuch im biologisch-ethischen Diskurs“ und beinhaltete grob zwei Abschnitte:

Die bereits erwähnten Versuche, die mithilfe der Gerätschaften aus spezialisierten Materialienkoffern durchgeführt wurden, sollten das Objekt der Kontroverse und des Dilemmas für die SchülerInnen fassbarer machen, damit am dritten Tag des Projektes ein fundierter Diskurs in Gestalt einer Bürgerkonferenz-Simulation entstehen konnte, speziell zur Frage „Dürfen die Forschungslizenzen CRISPR/Cas9 zum molekulargenetischen Eingriff in Deutschland ausgeweitet werden?“

Die experimentellen Tätigkeiten beliefen sich auf die Untersuchung der Gensequenz in Weintrauben, die für die Farbgebung relevant ist, daraus ergab sich die Frage, inwiefern die Farbgebung über CRISR/ Cas 9 beeinflusst werden kann.

Zunächst isolierten die SchülerInnen die jeweilige DNA ihrer Weinrebenblattprobe, was über Filtration, Behandlung mit diversen Stoffen und Zentrifugieren erfolgte, worin das anfangs erwähnte laute Rattern begründet läge.

Das Isolat wurde anhand der PCR-Methode, die man auch als Kopiervorgang für DNA bezeichnet, behandelt, sodass der zu betrachtende Abschnitt in der Gensequenz für die Farbgebung höher konzentriert vorläge und in den Folgeschritten besser untersucht werden könnte.

Besagte Folgeschritte waren zum einen die Behandlung der Probe nach 30 Zyklen (was bei nur einem Ursprungs-DNA-Strang heißen würde, dass die vervielfachte Gensequenz nun 230-mal, also 1.073.741.824-mal vorliegt) mit Restriktionsenzymen, die als hoch spezialisierte Scheren fungieren, zum anderen die anschließende Gelelektrophorese, bei der die gegebenenfalls durch Restriktionsenzyme zerschnippelte DNA sich ihrer Größe entsprechend verhält (größere, nicht zerschnittene, weil nicht mit dem jeweiligen Restriktionsenzym kompatible Partikel wandern unter dem Einfluss von elektrischer Spannung weniger weit durch das Gelkissen als die ob ihrer Größe agileren und zerschnittenen DNA-Stücke) und anhand der man die Existenz einer Gensequenz auf dem untersuchten DNA-Stück nachweisen kann, weil das Restriktionsenzym hoch spezialisiert ist und bei Bestand der untersuchten Sequenz schneidet, ansonsten aber nicht. 

Im Fall der Trauben wurde untersucht, ob die untersuchte DNA einen Abschnitt enthält, der die Exprimierung, also das In-Erscheinung-Treten der genetischen Information der roten Farbe verhindert. War dies der Fall, so wurde dies bei der Gelelektrophorese deutlich und man konnte sich sicher sein, die DNA aus einer hellen Rebensorte mit diversen chemischen Materialien und mechanischen Methoden aus dem Zellkern der Pflanzenzelle „geballert“ zu haben, ansonsten hatte man mit roten Reben gearbeitet.

CRISPR/Cas9 ist, wie in den zwischenzeitlich stattfindenden Fragerunden und den jeweiligen Abschlussrunden der beiden ersten Tage deutlich wurde, insofern in Sachen Weinrebensorten relevant, als dass theoretisch anhand dieser Methode, die von Bakterien in ihrer Verteidigung gegen virale Angriffe abgeschaut wurde und wobei sich die Ubiquität des in diesem Prozess beteiligten Cas 9-Proteins in Tier- und Pflanzenzellen zunutze gemacht wird, der hemmende Abschnitt in der Gensequenz aus weißen Rebensorten entfernt werden kann, um rote Weinreben zu erhalten und andersherum besagter Abschnitt in das Genom einer roten Weinrebensorte für das gegenteilige Ergebnis eingefügt werden kann.

Dass man sich auf gentechnischer Ebene aussuchen kann, welche Rebensorten man züchtet, ist inzwischen gang und gäbe, auch andere Lebensmittel werden so, um wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen, bearbeitet. CRISPR/Cas9 gilt als bisher einfachste, souveränste und billigste Methode, das Genom eines Lebewesens zu beeinflussen und punktgenau zu ändern.

Allerdings zeugt nicht zuletzt der rege Zuwachs an Reformhaus- und Biomarkt-Stammkunden, dass diese Tätigkeiten von vielen Menschen nicht gutgeheißen werden und das Ganze Konfliktpotential hat.

Wie weit ist denn nun zu weit? Zieht man die Grenze bei genmanipulierten Tomaten, die eigentümlich schmecken, oder steigt man über die Regelungen zum Embryonenschutz hinweg?

Sollte man weiter an CRISPR/Cas9 forschen oder die Finger davon lassen?

Dieser Frage wurde sich am dritten und letzten Tag ausführlich gewidmet; die simulierte Bürgerkonferenz war der Backdrop und die Diskussionsrunde war in drei Grundansichten eingeteilt:

Ein Drittel der SchülerInnen sollte aus utilitaristischer Perspektive nach Jeremy Bentham (1748-1832) oder John Stuart Mill (1806-1873), die in vorigen Religionsstunden behandelt worden waren, argumentieren, was für die konkrete Fragestellung nach der Lizenzerweiterung eine tendenzielle Befürwortung einer solchen Erweiterung bedeutete, weil mit der CRISPR/Cas9- Methode gegebenenfalls vielen Menschen auf die eine oder andere Weise geholfen werden könne, was dem utilitaristischen Ziel der Glückmaximierung für möglichst viele Menschen zuträglich wäre.

Ein zweites Drittel sollte von der prinzipienethischen bzw. deontologischen Sicht nach Immanuel Kant (1724-1804) ausgehen, nach der Handlungen ethisch betrachtet nicht nur nach ihren Konsequenzen, sondern hauptsächlich nach festgelegten Prinzipien bzw. nach dem Kategorischen Imperativ, nach der man so zu handeln habe, dass der Mensch  selbst Zweck und nicht bloß Mittel sein solle, beurteilt werden.

Auf den spezifischen Fall übertragen würde es bedeuten, Bedenken an der etwaigen Instrumentalisierung und die Entwicklung einer Selektionskultur im Prozess der weiteren Etablierung der CRISPR/Cas9- Methodik anzuführen.

Das letzte Drittel sollte speziell aus der Position eines Vertreters des christlichen Menschenbildes heraus sprechen; die allgemeine Haltung, die dieser Gruppe in der Bürgerkonferenz innewohnte, war mit der der Prinzipienethiker vergleichbar, auch hierbei wurden Vorbehalte der möglichen Folgen auf die Menschheit und einzelne Mitglieder derer im Besonderen durch den Einfluss von CRISPR/Cas9- Forschung angeführt.

Mit dem greifbaren und praktisch erlangten Wissen parat wurde die oben angeführte Frage aus verschiedenen Rollen heraus etwas über eine halbe Stunde diskutiert. Die Sprechenden hatten sich innerhalb ihrer Gruppe eine Rollenkarte mit ihrer Position ausgesucht und sollten darauf basierend die Ansichten der jeweiligen ethischen Konzepte vertreten.

Die möglichen Positionen, die zu vertreten waren, reichten von BürgerInnen in Laienpositionen mit groben Positionierungen bis hin zu jeweiligen Experten, zum Beispiel dem nach seiner Chinareise CRISPR/Cas9-kritischen Wissenschaftsjournalisten, dem Kirchenvertreter der EKHN oder dem auf Humangenetik spezialisierten Biologen.

Im Anschluss der Hauptdiskussion sollte eine Abstimmung stattfinden, bei der der Großteil der BürgerInnen für eine Ausweitung der Forschungslizenzen CRISPR/Cas9 zum molekulargenetischen Eingriff, allerdings mit sehr strengen Regulierungen, stimmte, womit die Simulation von den drei ModeratorInnen aus der Schulgemeinschaft zu Ende geführt wurde. 

Das offizielle Ende war die mitunter selbstkritische Betrachtung des Diskurses bzw. die Auffassung dazu von außenstehenden Positionen, da einige SchülerInnen der Runde auch eine ausschließlich beobachtende Rolle eingenommen hatten. In dieser Runde sind somit die Meinungen zum Erfolgten geäußert und inhaltliche sowie strukturelle Verbesserungsvorschläge  vorgebracht worden.

Das allgemeine Stimmungsbild nach Beendung des neuartigen Projektes legte nahe, dass dieses Unterfangen als eine sehr gute Idee mit bestechenden Methoden zu verzeichnen ist, das also auch für folgende Jahrgangsstufen nach einigen Anpassungen durchaus eine Zukunft haben könnte.

Wer weiß, wer das nächste Mal der arglose Beobachter sein wird, der eines Tages zufällig in den Raum 121 stolpert und erstaunt auf die Pipetten blickt, die die evangelische Religionsklasse 2020/21 in den Händen hält, um sich der praktischen Implikationen nach der Frage der Ethik und Wissenschaft etwas bewusster zu werden?

 

Artikel von: Bogdana Beschieru

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